Das Foto zeigt mich an meinem Lieblingsplatz. Von klein auf hatten Bücher besondere Bedeutung für mich. Ich erlebte sie als Räume von Freiheit, in denen ich weite Reisen unternahm und in denen meine Wahrnehmung sich vertiefte. In Berührung mit Literatur für Erwachsene kam ich erstmals in der neunten Klasse des Gymnasiums. Nicht im Deutsch-, sondern im Geschichtsunterricht. Es waren Gedichte von Joseph von Eichendorff und Georg Trakl. Ich fühlte die Sehnsucht der Romantik an und die bläulich schwarzen Himmel über den Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs. Es war eine Initialerfahrung – im Wort waren Raum und Zeit aufgehoben. Ich empfand mein Leben eingebettet in einen Erzählstrom, der mich durch Zeiten und Räume trug, der über mich hinaus wies und mich mein Leben, mein Gewordensein, den Zeitgeist, der mich prägte, besser verstehen lehrte.

Lesen hat seither diese horizontale Achse für mich, aber auch eine vertikale. Sie führt in die Tiefe des Augenblicks, lotet Gefühle und Gedanken aus.

Lesen war und ist für mich verdichtetes, intensives Leben.

Seitdem bin ich weit im Wort gereist. Ich studierte Germanistik und Geschichte in Köln und evangelische Theologie in Bonn. Neben den vertrauten Sprachen Latein, Französisch und Englisch kamen Altgriechisch und Hebräisch hinzu. Ich lernte verstehen, wie sehr unser Denken und Fühlen durch die Strukturen der Sprache geprägt ist, die wir sprechen.

In den folgenden Jahren machte ich auf vielen verschiedenen Ebenen Erfahrungen mit Sprache. Ich schrieb biographische Romane, Predigten, literarische Programme, Reden, ich übte mich in Performance und Rezitation und gab in Workshops meine Erfahrungen weiter.

Es ist mir ein Herzensanliegen, mit meiner Arbeit Freude am Reichtum der Sprache zu wecken und Bewusstsein für ihre Bedeutsamkeit. Freude an fremden Gedankenwelten, Freude daran, die eigene Sprache zu vertiefen und ihres schöpferischen Potentials gewahr zu werden. Denn wir sind als Menschen sprachbegabte Wesen, die denkend mit und in Worten das Leben entwerfen, das wir führen. Wir tun dies, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. In einer von äußeren Bildern dominierten Welt ist es schwieriger und zugleich notwendiger denn je, dem eigenen Entwurf vom Leben nachzuspüren und das zur Sprache kommen zu lassen, was in uns entfaltet werden will. Auf dass es unser Leben ist, das wir in Lebendigkeit und Freiheit führen, denn, mit Schiller: Man liebt nur, was einen in Freiheit setzt.

Mich hält kein Band,

mich fesselt keine Schranke,

frei schwing ich mich durch alle Räume fort.

Mein unermesslich Reich ist der Gedanke

und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort.

Friedrich Schiller

 

Das Gefieder der Sprache

streicheln.

Worte sind

Vögel.

Mit ihnen

davonfliegen.

Hilde Domin

Im Anfang war das Wort ...

alle Dinge

sind durch dasselbe

gemacht worden.

Johannesevangelium